Das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH hat in seiner Studie „CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-°C-Grenze“ Denkanstöße für das Erreichen einer CO2-Neutralität in Deutschland bis 2035 zusammengefasst. Hintergrund ist, dass nach aktuellen Erkenntnissen des Weltklimarates IPCC und des Sachverständigenrates für Umweltfragen (SRU) für eine Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad Celsius Deutschland ab 2020 ein Rest-CO2-Budget von 4.200 Mio. Tonnen CO2 hätte (Ziel Weltklimavertrag: Begrenzung auf deutlich unter 2 Grad Celsius, wenn möglich auf 1,5 Grad Celsius). Um diese Temperatur-Begrenzung zu erreichen, müsste Deutschland bereits in 15 Jahren gegen 2035 CO2-neutral sein. Dementsprechend berechnen die Autoren für die kommenden fünf bis sechs Jahre eine notwendige Reduzierung der CO2-Emissionen in Deutschland im Mittel um 60 bis 70 Mio. Tonnen CO2 jährlich (Mittel der letzten 10 Jahre: 8 Mio. Tonnen CO2 jährlich).
Die Autoren sehen diese starke Reduzierung als technisch und wirtschaftlich extrem anspruchsvoll aber möglich an. Zur Umsetzung geben Sie u. a. folgende Denkanstöße, wobei CH4- oder N2O-Emissionen aus der Landwirtschaft nicht berücksichtigt wurden:
Zentraler Denkanstoß ist das Ziel einer 100 prozentigen Stromversorgung aus Erneuerbaren Energien bis 2035. Dafür errechnet die Studie einen benötigten jährlichen Zubau von Windenergie (on- und offshore) und PV zwischen 25 bis 30 GW (Ausbauziele der Novelle zum EEG 2021: jährlicher Zubau von 9,6 GW geplant). Zudem muss der Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze beschleunigt sowie die Errichtung von Kurz- und Langzeitspeichern (z. B. Pumpspeicherkraftwerke, Batterien und chemische bzw. Wasserstoff-Speicher) priorisiert werden. Zudem sollte die Kapazität an Elektrolyseuren für die Herstellung von grünem Wasserstoff bis 2035 auf 40 bis 90 GW ausgebaut werden (Ziel Wasserstoffstrategie der BReg für 2035: Kapazität von 10 GW). Mit dieser erweiterten Kapazität sollen 150 bis 200 TWh grüner Wasserstoff inländisch zur Verfügung gestellt werden (errechneter Bedarf für CO2-neutrales Energiesystem in 2035: 400 bis 900 TWh grüner Wasserstoff). Die zusätzlich benötigte Differenz an grünem Wasserstoff soll ökologisch nachhaltig importiert werden (z. B. aus Skandinavien).
Für die Transformation der Industrie wird zunächst eine sofortige Substitution aller fossiler Energieträger und Grundstoffe angeregt. Dies beträfe den Austausch von fossilen Brenn- und Heizstoffen durch Erneuerbare Energien (z. B. Elektrifizierung von Industrie-Heizsystemen) sowie den Verzicht auf fossile Grundstoffe in der chemischen Industrie durch eine optimierte Kreislaufführung (z. B. Ausbau des chemischen und mechanischen Recyclings) und den Einsatz von biogenen Materialien. Nach den Vorstellungen der Autoren müsste ab sofort jede Neuinstallation von Industrieanlagen, trotz Unsicherheiten bzgl. der Effizienz und den möglichen Kombinationen bei den technologischen Entwicklungsrouten, mit dem CO2-Neutralitätsziel für 2035 kompatibel sein. Weitere Denkanstöße sind der Ausbau der Kreislaufwirtschaft in der Industrie, um fossile Primärrohstoffe einzusparen, und die staatliche Förderung der Entwicklung von nicht-fossilen Prozesstechnologien (z. B. durch Differenzverträge) insbesondere im großtechnischen Maßstab (z. B. CO2-neutrale Stahlherstellung). Um Carbon Leakage zu vermeiden, könnte u. a. ein CO2-Grenzausgleichsmechanismus für die EU etabliert werden.
Im Verkehrsbereich ist der grundsätzliche Denkanstoß der Autoren, das Aufkommen im Straßen- und Güterverkehr zu reduzieren. Gleichzeitig sollen insbesondere die Angebote des ÖPNV ausgebaut, der verbleibende Güterverkehr auf die Schiene verlagert und der individuelle Straßenverkehr elektrifiziert werden. Um diesen Wandel anzureizen und die Attraktivität des individuellen Autoverkehrs zu verringern, schlagen die Autoren langfristig ein Zulassungsverbot von Verbrennungsfahrzeugen und kurzfristig u. a. eine Verschärfung bzw. die Einführung von Tempolimits, die Erhöhung von Parkgebühren, die Ausweitung von innerstädtischen ÖPNV- bzw. Fahrradflächen in Kombination mit null-Emissions-Umweltzonen im Stadtkern oder die Förderung von sog. Sharing-Mobilitätsplattformen vor. Im Bundesverkehrswegeplan sprechen sich die Autoren für ein Moratorium für Straßenneubau und eine Mittelumschichtung für Ausbauprojekte bei Schienen- und Wasserstraßen aus.
Im Gebäudebereich richtet sich der Denkanstoß insbesondere an eine Steigerung der jährlichen Sanierungsrate. Hier sehen die Autoren eine jährliche energetische Sanierung von mindestens vier Prozent aller Gebäude vor (Ziel der BReg: jährliche Sanierung von zwei Prozent aller Gebäude). Dabei sollte mindestens der Standard des KfW Effizienzhaus 55 eingehalten werden. Fossile Heizungen sollen durch Wärmepumpen, solarthermische Kollektoranlagen oder grüne Nah- bzw. Fernwärme ersetzt werden. Der Bestand an nicht-austauschbaren fossilen Heizungen soll mit synthetischen Brennstoffen betrieben werden. Zudem muss der Bedarf an Wohnfläche und damit der Energiebedarf durch alternative Wohnnutzungskonzepte, wie etwa dem Mehrgenerationenhaushalt, gesenkt werden.
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